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Pubertäre Psyche: Was ist normal?

Nicht nur der Körper, auch die Seele macht in der Pubertät große Veränderungen durch – heutzutage zusätzlich beeinflusst durch Faktoren wie Internet und Pandemie.
Vieles ist normal, doch manche Probleme verlangen medizinische Hilfe. Wie man sie erkennt, erklärt Univ.-Prof. Dr. Kerstin Konrad. Sie ist an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Aachen tätig. Mit ihrem Team erforscht sie die Hirnentwicklung und Störungen bei Heranwachsenden.

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In der Pubertät gehen viele junge Menschen durch eine schwierige Zeit, das gehört oft einfach dazu. Aber was sind Anzeichen dafür, dass das Kind professionelle Hilfe braucht? Wann handelt es sich nicht mehr um den „üblichen“ sozialen oder emotionalen Stress der Pubertät?

Um das zu erkennen, gibt es zwei wichtige Kriterien. Das erste ist das Kriterium „Zeit“: Zieht sich der Jugendliche dauerhaft, etwa über mehrere Wochen sozial zurück? Hat er das Interesse an den meisten Aktivitäten verloren? Hat das Kind absichtlich innerhalb weniger Wochen deutlich an Gewicht verloren? Das zweite Kriterium ist die Beeinträchtigung der Funktionen im Alltag. Das betrifft Fragen wie: Schafft der Jugendliche es nicht mehr, zur Schule zu gehen? Hat er seinen Freundeskreis verloren? Wenn solche Symptome über einen längeren Zeitraum bestehen, etwa durchgehend über mehrere Wochen, dann ist das ein ernsthaftes Warnsignal.

Welche Krankheiten können besonders in der Pubertät entstehen?

Viele Verlaufsstudien zeigen, dass schwerwiegende psychische Störungen von der Kindheit bis in die Adoleszenz ansteigen. Sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen nimmt die Zahl der klinisch relevanten Störungen zu, die mit einer Beeinträchtigung im Alltag einhergehen. Zu den häufigsten Störungen, die mit dem Jugendalter beginnen, gehören Angststörungen, depressive Störungen und Essstörungen. Dazu kommen Störungen des Sozialverhaltens und Suchterkrankungen. Auch das Risikoverhalten nimmt in dieser Lebensphase zu: Das betrifft etwa Tabak- und Alkoholkonsum, riskantes Verhalten im Straßenverkehr oder ungeschützten Geschlechtsverkehr. Mit solchen Verhaltensweisen nimmt auch das Risiko von Unfällen oder somatischen Erkrankungen zu – darunter sind zum Beispiel Geschlechts-/Infektionskrankheiten oder die Folgen von übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum zu verstehen.

Können diese Störungen zu langfristigen Problemen werden?

Ja. Es ist unbedingt zu bedenken, dass ein früher Krankheitsbeginn, also im Jugendalter, oft eine schlechtere Prognose, höheren Raten von Komorbidität (Begleiterkrankungen) und ein schlechteres Ansprechen auf Behandlung bedeuten kann. In der Adoleszenz besteht also tatsächlich eine erhöhte Gefahr psychischer Störungen, die der Beginn chronischer Probleme werden können. Das verdeutlicht, dass die Pubertät eine sensible Lebensphase ist.

Gibt es nennenswerte Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen?

Ja: Für die geschlechtsabhängigen Unterschiede werden verschiedene Einflüsse verantwortlich gemacht – etwa hormonelle Faktoren, aber auch Rollenmodelle. Vor der Pubertät treten psychische Störungen häufiger beim Jungen als bei Mädchen auf. Dieses Verhältnis ändert sich aber mit der Pubertät. Bei Mädchen kommt es dann besonders häufig zu sogenannten introversiven Störungen wie Angst und Depressionen. Aber auch extroversive Störungen, dazu zählt etwa die Störung des Sozialverhaltens, nehmen bei Mädchen während der Adoleszenz deutlicher zu als bei Jungen. Männer entwickeln aber auch nach der Pubertät häufiger extroversive Störungen. Dadurch wird der geschlechtsbedingte Unterschied geringer. Übrigens zeigen sich auch beim vorhin erwähnten risikoreichen Verhalten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen – wobei sich hier in den letzten Jahren eine deutliche Annäherung beider Geschlechter gezeigt hat.

Wie kann man ein pubertierendes Kind in seiner emotionalen Entwicklung unterstützen? Welche Fehler werden oft gemacht?

Auch wenn die Jugendlichen das häufig nicht zeigen: Die Eltern bleiben eine wichtige Instanz für Orientierung – neben den jetzt immer wichtiger werdenden Peers, also den Gleichaltrigen. Deshalb sind, wie schon im Kindesalter, ein warmer Erziehungsstil, aber auch klare Grenzsetzung eine gute Möglichkeit, die emotionale Entwicklung des Jugendlichen zu unterstützen. Für Eltern ist das oft sehr herausfordernd, aber „im Kontakt bleiben“ mit dem Jugendlichen ist auf jeden Fall hilfreich. Auch die Fähigkeit der Eltern, ihre eigenen Gefühle zu regulieren, hilft ihnen dabei, die Jugendlichen in dieser Phase besser zu unterstützen. Außerdem bewährt es sich, in emotional bereits aufgeheizten Diskussionen von den Teenagern nicht rationale Entscheidungen zu erwarten. Besser ist es, vorher eine Cool-Down-Phase einzulegen. Nur um des lieben Friedens willen sollte aber nicht auf das Ziehen von Grenzen und Einhalten von Regeln verzichtet werden.

Wie sieht es aus beim Thema Sexualität? Hat sich das „sexuelle Erwachen“ im Vergleich zu früher verändert?

Trotz viel leichterem Zugang zu pornographischen Inhalten haben sich viele Pubertätsmerkmale nicht verändert – etwa sexuelle Unsicherheiten oder das Schamgefühl beim Sprechen über sexuelle Fragen. Im Gegenteil, die eigene sexuelle Entwicklung ist heute vielleicht noch herausfordernder. Die Normalisierung verschiedener sexueller Orientierungen und Identitäten durch die Bemühungen der LGBTQ-Bewegung ist natürlich wünschenswert. Aber das Erkunden der eigenen Geschlechtsidentität und Orientierung – eine der wichtigsten Aufgaben in der Adoleszenz – ist nun noch komplexer.

Sie sprechen pornographische Inhalte im Internet an. Sind sie ein Problem? Beeinflussen sie die Entwicklung in der Pubertät?

Eine große australische Übersichtsarbeit hat gezeigt, dass fast die Hälfte der Kinder im Alter von 9 bis 16 Jahren regelmäßig sexuellen Bildern ausgesetzt ist. Der Konsum von Pornografie im Internet ist immer im breiteren soziokulturellen Kontext zu sehen. In diesem spielen auch Geschlechterstereotypen, Sexismus, sexuelle Objektivierung und gewaltfördernde Haltungen eine Rolle. Das erhöht das Risiko für Haltungen, die sexuelle Gewalt und zum Beispiel Gewalt gegen Frauen unterstützen. Außerdem scheint der Konsum von Pornographie im Zusammenhang mit der Anwendung unsicherer sexueller Praktiken zu stehen, etwa der Nichtverwendung von Kondomen.

Viel wurde über die Probleme junger Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie berichtet. Hatte sie einen Einfluss auf die Pubertät mancher Jugendlicher?

Ja, verschiedene Studien zeigen, dass während der Lockdowns psychische Probleme im Kindes- und Jugendalter insgesamt zugenommen haben. Viele Jugendliche konnten nur sehr eingeschränkt ihre Entwicklungsaufgaben wahrnehmen. Zu diesen Aufgaben gehören auch die Loslösung aus der Primärfamilie und der Aufbau einer eigenen sozialen Peergruppe. Aber Jugendliche sind auch sehr anpassungsfähig. Viele haben kreative Auswege gefunden oder holen die nicht gemachten Erfahrungen jetzt einfach nach. Insgesamt scheint es aber eine hoch vulnerable Gruppe zu geben, etwa jene mit bereits vorher bestehenden psychischen Problemen. Bei ihnen waren die Einschränkungen in der Corona-Pandemie ein Auslöser für eine weitere Negativspirale. Sie brauchen jetzt besondere Unterstützung.

Zur Person

Prof. Kerstin Konrad leitet die Sektion „Klinische Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters“ am Universitätsklinikum der RWTH Aachen und ist Direktorin am JARA-Brain Institut für Molekulare Neurowissenschaften und Bildgebung (JBI-II) am Forschungszentrum Juelich. Sie ist Diplom-Psychologin, psychologische Psychotherapeutin und Klinische Neuropsychologin. Prof. Konrad forscht seit vielen Jahren auf dem Gebiet der normalen und abweichenden Hirnentwicklung bei psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters.