Das Licht ist zu grell, die Musik zu laut, das T-Shirt zu kratzig: Hochsensible Menschen fühlen sich schnell von Reizen überwältigt, die andere Personen nicht stören. Dieses Persönlichkeitsmerkmal ist keine Krankheit. Wir gehen auf Symptome, Ursachen und den Umgang mit Hochsensibilität ein.
Qualitätssicherung:Theodor Schaarschmidt, Diplom-Psychologe und Wissenschaftsjournalist
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Definition: Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal mit verstärkter Reizwahrnehmung und erhöhter Reaktion auf Reize.
Spektrum: Hochsensibilität existiert auf einem Spektrum. Manche Menschen sind sehr hochsensibel, andere weniger oder nur in bestimmten Bereichen.
Hauptmerkmale: Hohe Sensitivität für Nuancen, erhöhte emotionale Reaktivität, erhöhte Empathie, tiefere Reizverarbeitung und Neigung zur Überstimulation
Diagnose: Hochsensibilität wird derzeit durch subjektive Selbsteinschätzungsfragebögen diagnostiziert. Es gibt noch keine objektiven Tests.
Umgang und Strategien: Hochsensible sollten ihren Alltag anpassen und Methoden wie Achtsamkeitstraining nutzen. Für Außenstehende ist es wichtig, Verständnis zu zeigen und Rücksicht auf die Bedürfnisse hochsensibler Menschen zu nehmen.
Hochsensibilität – was ist das?
Das Konzept der Hochsensibilität wurde im Jahr 1997 von dem Forscherpaar Elaine und Arthur Aron begründet und wird seitdem erforscht. Die beiden verstehen Hochsensibilität nicht als Krankheit, sondern als Persönlichkeitsmerkmal, das von einer verstärkten Reizwahrnehmung und erhöhten Reaktion auf Reize geprägt ist. „Wir alle reagieren sensibel auf unsere Umwelt, sonst könnten wir gar nicht überleben“, erklärt Professorin Corina Greven, die am Radboud University Medical CentreCenter in den Niederlanden zum Thema Hochsensibilität forscht. „Aber wir unterscheiden uns im Ausmaß unserer Sensibilität.“
Hochsensibilität hat ein breites Spektrum
Wie bei allen Persönlichkeitseigenschaften gibt es auch bei Hochsensibilität ein kontinuierliches Spektrum: Manche Menschen gehören zu den sehr Hochsensiblen, andere sind es nur wenig oder nur in einem Teilbereich, wie beim Hören oder Sehen. Von manchen Forschenden werden hochsensible Menschen auch als Orchideen bezeichnet – in Anlehnung an die Blumen, die sehr hohe Anforderungen an ihren Standort stellen, bei guter Pflege aber besonders schöne Blüten ausbilden. Analog dazu können betroffene Menschen stärker unter negativen Umweltbedingungen leiden, sie können aber unter Umständen auch besonders stark von einem unterstützenden Umfeld profitieren. Im Kontrast zu ihnen steht eine andere Gruppe von Menschen, die eher weniger sensibel auf Umweltreize reagieren. Sie werden daher auch als Löwenzahn bezeichnet, da diese Blumen als besonders robust gelten. Die meisten Menschen, die diesen beiden Bereichen nicht zuordenbar sind, befinden sich eher zwischen den beiden Extremen. Sie werden von der Tulpe symbolisiert.
Welche Persönlichkeitseigenschaften haben Hochsensible?
In der Psychologie wird die Persönlichkeit von Menschen anhand von fünf übergeordneten Persönlichkeitseigenschaften definiert: Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Diese werden auch als die Big Five bezeichnet.
Die Big-5-Dimensionen der Persönlichkeit
Offenheit beschreibt einen Grad der Aufgeschlossenheit. Wie neugierig ist eine Person und wie gerne lässt sie sich auf neue Ideen, Situationen und Perspektiven ein.
Gewissenhaftigkeit zeigt, wie pflichtbewusst, zielstrebig, diszipliniert und kompetent ein Mensch ist.
Extraversion meint ein offenes, nach außen gerichtetes Persönlichkeitsprofil. Extravertierte Personen agieren gerne in der Gruppe, sind aktiv, kommunikativ energisch und enthusiastisch.
Verträglichkeit zeigt, wie gut ein Individuum mit anderen auskommt. Empathie, Rücksichtnahme, Kooperation und Altruismus spielen hier eine Rolle.
Neurotizismus beschreibt bei Personen ihre Labilität und Empfindlichkeit gegenüber Negativität. Dies äußert sich unter anderem in durch Wankelmütigkeit, Wut, Nervosität und Unsicherheit.
Studien haben gezeigt, dass es bei hochsensiblen Erwachsenen eine Schnittmenge mit dem Persönlichkeitsmerkmal „Offenheit für Erfahrungen“ geben kann – diese Überschneidung wurde jedoch bei Kindern nicht beobachtet.
Auch die Eigenschaft Neurotizismus kann bei hochsensiblen Erwachsenen und Kindern stärker in Erscheinung treten. „Es wäre aber vereinfacht, das Konzept der Hochsensibilität nur als Kombination dieser beiden übergeordneten Persönlichkeitseigenschaften zu definieren“, ordnet Corina Greven ein.
Insgesamt ist das Forschungsgebiet zur Hochsensibilität noch recht jung und viele der Hypothesen zu den Hauptmerkmalen von Hochsensibilität brauchen noch eine stärkere wissenschaftliche Unterbauung, zum Beispiel durch Längsschnittstudien in repräsentativen Stichproben.
Symptome von hochsensiblen Menschen
Da Hochsensibilität keine Krankheit ist, sondern eine Persönlichkeitseigenschaft, sollte man anstatt von Symptomen besser von Merkmalen sprechen. Laut wissenschaftlicher Definition gibt es fünf Hauptmerkmale, die auf hochsensible Menschen zutreffen können:
1
Sensitivität für Nuancen
Viele Hochsensible sind der Meinung, dass sie selbst kleinste Umweltveränderungen wahrnehmen, die anderen verborgen bleiben. Dabei ist jede hochsensible Person anders. Während manche angeben, alle Umweltreize stärker zu empfinden, haben andere nur einen oder zwei hochsensible Bereiche.
2
Erhöhte Emotionale Reaktivität
Auf Umweltreize können Hochsensible mit einer erhöhten emotionalen Reaktion antworten. Beispielsweise können sie sich durch laute Geräusche oder grelles Licht ungleich stärker gestresst fühlen als andere, nicht-hochsensible Personen.
3
Erhöhte Empathie
Hochsensible gelten als besonders feinfühlig. Sie sollen die Emotionen ihrer Mitmenschen sehr intensiv fühlen und sich besonders schnell von deren Gefühlen anstecken lassen. Auch können sich Hochsensible angeblich leicht in jemand anderen hineinversetzen und deren Perspektiven verstehen – so äußern es die Betroffenen selbst in Befragungen häufig.
4
Tiefere Verarbeitung
Eine weitere These lautet: Das Gehirn hochsensibler Menschen soll einkommende Reize gründlicher verarbeiten. Diese Behauptung ist aber wissenschaftlich noch nicht belegt.
5
Leicht überstimuliert sein
Hochsensible Menschen fühlen sich schnell überreizt. Sie reagieren oft stärker auf emotionale und kognitive Reize. Daher sind sie auch besonders anfällig für sogenannte internalisierende Probleme. Dazu gehören Ängstlichkeit, depressive Symptome, Stress oder auch Burn-out und eine eher niedrige Lebensqualität. „Das heißt aber nicht, dass jeder hochsensible Mensch unter dieser Eigenschaft leidet“, sagt Corina Greven.
Diagnose von Hochsensibilität
Aktuell kann Hochsensibilität nur durch Selbsteinschätzung festgestellt werden. Dafür lassen sich im Internet zwei Fragebögen finden: Entweder den Highly Sensitive Person Scale (27 Fragen, auch auf Deutsch vorhanden) oder den Sensory Processing Sensitivity Questionnaire (SPSQ) (30 Fragen, bisher nur Englisch und Niederländisch). Bei beiden Fragebögen müssen Aussagen bewertet werden, darunter unter anderem „Ich empfinde es als unangenehm, wenn ich mich mit mehreren Dingen gleichzeitig beschäftigen muss.“ oder „Laute Geräusche bereiten mir Unbehagen.“.
Die Ergebnisse werden verglichen und ermittelt, ob man hochsensibel sein könnte oder nicht. „Es gibt bei hochsensiblen Personen eine große Varianz“, betont Dr. Jadzia Jagiellowicz, Psychologin an der Stony Brook University in New York und nach eigener Aussage selbst hochsensibel. „Und selbst wenn der Fragebogen negativ ausfällt, kann es sein, dass eine Hochsensibilität in einem Teilbereich vorliegt.“
Ein Nachteil der Fragebögen: Sie sind subjektiv. Jeder, der auf der Suche nach einer Diagnose ist, wird sich zumindest in einigen Punkten darin wiederfinden können. Doch weitere Tests gibt es bisher nicht. Aktuell gibt es keine (publizierten) Studien dazu, ob diese Menschen Umweltreize stärker wahrnehmen, da sie eine niedrigere Reizschwelle haben.
„Wir arbeiten intensiv daran, Hochsensibilität bald objektiver messen zu können“, erklärt Corina Greven. Für Kinder ist es zum Beispiel möglich, sich dem Thema Hochsensibilität über Verhaltensbeobachtungen oder semi-strukturierte Interviews zu nähern. „Interessant ist natürlich auch, wenn wir biologische Marker finden, die mit Hochsensibilität korrelieren“, sagt Greven.
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Hochsensibilität könnte zum Teil vererbbar und zum Teil durch Umwelteinflüsse bestimmt sein, so einige Forschungsmeinungen. Zu welchen Anteilen diese beiden Faktoren darauf Einfluss nehmen könnten, ob jemand hochsensibel ist, ist noch nicht genau geklärt.
„Was man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, ist, dass es nicht ein oder zwei Gene gibt, die über Hochsensibilität entscheiden“, erklärt die Psychologin Corina Greven. „Stattdessen sind es wohl sehr viele verschiedene Gene, die alle einen kleinen Einfluss haben.“
Umgang mit Hochsensibilität
Wer selbst vermutet, hochsensibel zu sein und schnell überreizt, sollte seinen Alltag entsprechend anpassen. Dazu sollte man sich zunächst selbst beobachten. „Schreiben Sie über ein paar Wochen hinweg auf, was Sie an einem Tag alles machen und ab wann Sie sich überreizt fühlen“, empfiehlt Jadzia Jagiellowicz. „Und wenn Sie merken, dass mehr als zwei Aktivitäten am Tag nicht drin sind, dann müssen Sie lernen, Nein zu sagen.“ Sie selbst managt ihre eigene Hochsensibilität ebenfalls mit dieser Strategie.
Auch Corina Greven sagt: „Das Bewusstsein über die eigene Veranlagung ist schon die halbe Miete. Vielen ist bereits damit geholfen, dass sie selbst über ihre Hochsensibilität Bescheid wissen.“ Denn wer sich und sein Reizlimit gut kennt, für den wird Hochsensibilität im Job nicht zum Nachteil. Dann plant man in der Mittagspause vielleicht eine halbe Stunde Zeit für sich allein ein, anstatt sich in der Kantine mit den Kolleginnen und Kollegen zum Plausch zu treffen. Denn nicht nur sensorische Reize können das Nervensystem überfordern, sondern auch soziale Reize. Falls es keinen Rückzugsort gibt, können Noise-Cancelling-Kopfhörer für Ruhe sorgen.
Jagiellowicz empfiehlt zum Stressabbau außerdem Zeit in der Natur - egal ob man spazieren geht, Fahrrad fährt oder einfach auf einer Parkbank sitzt und die Bäume anschaut. Die Natur erdet. Ein weiterer Tipp: Bewegungen der kleinen Muskeln in den Händen und im Kiefer wirken beruhigend auf das überreizte Nervensystem. Häkeln, Stricken oder Singen haben also einen positiven Einfluss. Auch Achtsamkeitstraining oder Meditation kann hochsensiblen Menschen dabei helfen, im Alltag besser zurecht zu kommen.
Im Umgang mit vermutlich hochsensiblen Menschen im Freundeskreis und in der Familie kann es helfen, großzügig zu sein. Die beste Freundin sagt das Treffen ab, weil sie heute schon einen stressigen Tag auf der Arbeit hatte und keine Kapazitäten mehr hat? Ihr Kumpel lässt spontan den lang geplanten Konzertbesuch platzen? Das ist ärgerlich. Versuchen Sie, die Absage nicht persönlich zu nehmen, sondern anzuerkennen, dass die andere Person nur für sich und ihre Bedürfnisse einsteht.
Hochsensible Menschen sollten jedoch nicht mit dieser Charaktereigenschaft hadern. Ihr großes Einfühlungsvermögen oder das besonders vorausschauende Denken können sowohl im Job als auch in zwischenmenschlichen Beziehungen von Vorteil sein.
Zur Person
Prof. Corina Greven forscht am Redboud University Medical Center for Mindfulness in den Niederlanden zum Thema Hochsensibilität. Außerdem ist sie Professorin in der Abteilung für kognitive Neurowissenschaften. Außerdem hat sie einen Doktortitel in Sozial-, Genetik- und Entwicklungspsychiatrie.
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